Vor vier Jahren wurde bei Susanne Knabe Multiple Sklerose diagnostiziert. Medikamente helfen ihr nicht, eine Corona-Infektion verschlimmerte den Verlauf der Krankheit. Mittlerweile ist ihre linke Körperhälfte motorisch stark eingeschränkt, oft fehlt ihr die Kraft für die einfachsten Alltagsdinge. An schlechten Tagen, sagt sie, sei schon der Weg vom Auto in den Supermarkt zu viel für sie. Nun hofft die 48-Jährige, dass sie die MS mit einer Stammzelltransplantation stoppen kann.
Das ist eine Therapie, die sich in der Praxis als hochwirksam erwiesen hat. Allerdings kostet sie 50 000 Euro und wegen fehlender wissenschaftlicher Studien übernehmen die Krankenkassen in Deutschland diese Kosten nicht. Nur mit Hilfe von geliehenem Geld von Freunden und Bekannten konnten Susanne und ihr Mann Ricky Knabe die nötigen 50 000 Euro nun vorstrecken. Damit sie das Geld zügig zurückzahlen können, werben sie über eine Internetseite um Spender. Fast 13 000 Euro sind so schon zusammengekommen.
Das eigene Immunsystem greift die Nervenzellen an
Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem die Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark angreift und schädigt. Es entstehen chronische Entzündungen. Die Folge können ganz verschiedene Symptome sein, zum Beispiel Empfindungsstörungen wie ein Taubheitsgefühl in Armen und Beinen, starke Müdigkeit oder rasche Erschöpfung, Sehstörungen oder sogar Lähmungserscheinungen. In manchen Fällen sind die Symptome vorübergehend, in manchen bleiben sie und werden immer schlimmer. Die Krankheit kann schubweise oder langsam, schleichend voranschreitend (progredient) auftreten. Mehr als 250 000 Menschen in Deutschland leiden laut Bundesversicherungsamt an MS, mit sehr unterschiedlich schweren Verläufen.
Susanne Knabe, die immer viel Sport gemacht hat, merkte zum ersten Mal vor vier Jahren beim Joggen, dass etwas nicht stimmt. Sie konnte ihre Fußspitze nicht mehr richtig heben, eine sogenannte Fußheberschwäche. Susanne Knabe war sehr schnell klar, was die Ursache sein könnte. Denn: Ihre Schwester litt da bereits unter MS. „Ich wusste, wie es bei ihr losgegangen ist.“
Die 48-Jährige sitzt am Esszimmertisch in ihrem Haus in Remshalden, wo sie mit ihrem Mann und ihrem 16-jährigen Sohn wohnt. Sie trägt eine FFP2-Schutzmaske, auch die Besucher müssen eine tragen. Ihr Immunsystem ist geschwächt, weil sie eine Chemotherapie bekommen hat, eine Vorbereitung für die Stammzelltransplantation. Deswegen haben ihre Haare begonnen auszufallen. Sie hat sie raspelkurz geschnitten.
Medikamente blockieren das Immunsystem
Nachdem sie 2018 die befürchtete Diagnose erhielt, wurden die Symptome bei Susanne Knabe immer schlimmer, trotz der Medikamente, die sie nahm. Die üblichen Medikamente bei MS funktionieren so, dass sie das Immunsystem mehr oder weniger spezifisch blockieren, so dass es im besten Fall aufhört, die eigenen Nervenzellen zu attackieren. Die Entzündungen werden im Akutfall zudem mit Cortison behandelt.
Susanne Knabe machte mehrere Medikamente durch und landete dann bei der sogenannten Eskalationstherapie mit dem Medikament Ocrelizumab (Ocrevus), das die B-Zellen außer Gefecht setzt und dadurch das Immunsystem massiv angreift. Doch selbst dieses aggressive Mittel stoppte die MS bei Susanne Knabe nicht.
Lange Zeit war sie dabei noch voll berufstätig. Sie ist Fachkraft für Zahngesundheit und war in Schulen und Kindergärten unterwegs, um dort Zahnprophylaxe zu machen. Doch dann infizierte sie sich im Frühjahr 2022 mit Corona – und die MS verschlimmerte sich noch einmal.
Ihre Kraft ist schnell weg, sie hat oft Mühe, lange Zeit einem Gespräch zu folgen, vergisst Dinge. „Man fühlt sich schlapp, müde, einfach kraftlos. Ich bin schon im Auto gesessen und wollte zum Einkaufen gehen und habe überlegt, schaffe ich das oder fahre ich gleich wieder heim?“ An guten Tagen könne sie vielleicht drei Kilometer weit laufen, an schlechten sei schon nach einem Kilometer Schluss. „Ich muss dann aufpassen, dass ich nicht mit dem Fuß irgendwo hängen bleibe und stürze.“ Auch ihrer linken Hand fehlt das Gefühl.
Der heiße Sommer dieses Jahr kam noch obendrauf, denn je heißer es ist, desto schlimmer werden die körperlichen Einschränkungen bei Susanne Knabe. Dieser Effekt ist als Uhthoff-Phänomen bekannt und lässt sich wohl darauf zurückführen, dass Funktionsstörungen in vorgeschädigten Nerven unter Hitzeeinwirkung und bei erhöhter Körpertemperatur zunehmen.
„Davor, irgendwann nicht mehr laufen zu können, habe ich echt Angst“, sagt Susanne Knabe. „Abhängig von jemand sein – das möchte ich eigentlich nicht.“ Das Schlimme an der Krankheit sei, dass man nicht wisse, wie sie sich weiterentwickle, meint ihr Mann Ricky: „Wenn man abends nicht weiß, wie es am nächsten Morgen ist. Man kann sich nicht darauf einstellen.“ Deswegen hätten sie keine Zeit mehr zu verlieren.
Behandlungsmethode, die bei Blutkrebs zum Einsatz kommt
Nachdem der Einsatz von Medikamenten vergeblich blieb, stieß Susanne Knabe auf einen Bericht über die autologe Stammzelltransplantation. Diese Behandlungsmethode kommt eigentlich vor allem bei Blutkrebs zum Einsatz. Dabei wird ein Großteil des Immunsystems zerstört und durch die Transplantation von vorher entnommenen Stammzellen neu aufgebaut. Die Hoffnung ist dann, dass das Immunsystem nach dem Neustart funktioniert, wie es soll, und nicht mehr die Nervenzellen angreift.
Diese Therapie bieten in Deutschland wenige Spezialkliniken an, zum Beispiel die Uniklinik in Heidelberg. Susanne Knabe hat sich an die Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) und den dort als Oberarzt verantwortlichen Prof. Dr. Christoph Heesen gewandt. Gleich am Anfang habe er ihr aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte gesagt, dass sie sich darauf einstellen müsse, nicht mehr laufen zu können, wenn es in der Geschwindigkeit weitergehe.
Stammzelltransplantation nur bei schweren Verläufen
Nach verschiedenen Voruntersuchungen und Abwägungen bot Heesen Susanne Knabe an, die Stammzelltransplantation bei ihr zu versuchen. Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle: Eingesetzt wird die Therapie nur bei Menschen, die einen hochaktiven, schweren Verlauf der MS haben und bei denen medikamentös alles versucht wurde. Aufgrund der Datenlage geht man außerdem davon aus, so führt ein Patienteninfoblatt der UKE aus, dass sie vor allem bei jüngeren Patientinnen und Patienten mit noch kurzer Krankheitsdauer Erfolg hat. Als Altersgrenze setzen Studien demnach 50 oder 55 Jahre. Unter anderem, weil mit dem Alter das Risiko von Komplikationen steigt.
Prof. Heesen habe ihr gesagt, dass bei den in Hamburg durchgeführten Stammzelltransplantationen die MS in allen Fällen sie MS zum Stillstand gekommen sei. In einzelnen Fällen verbesserten sich sogar die Einschränkungen der Menschen wieder. Heesen sagte in einem im Mai ausgestrahlten Fernsehsendung von NDR-Visite: „Ich glaube, der Stillstand der Erkrankung bei geeigneten Patienten ist ein sehr realistisches Ziel. Vielleicht sogar Heilung, wenn man sehr früh da einsteigt.“
Doch trotz dieser Erfolge und trotz ähnlich vielversprechender Studienergebnisse, weigern sich die Krankenkassen in Deutschland bisher noch, die Kosten für die Therapie zu übernehmen. Manche MS-Kranke gehen deswegen sogar nach Mexiko oder Russland dafür.
Das Problem sei, so erklärte Christoph Heesen im erwähnten NDR-Beitrag, dass es bisher zwar viele Daten, aber nur eine einzige randomisierte, kontrollierte Studie gebe. Eine weitere, an der er beteiligt war, musste aus finanziellen Gründen abgebrochen werden.
Bisher sei es ein „Kampf“, so Heesen. Das heißt, die Krankenkassen zahlen zwar in Einzelfällen, aber meist erst, wenn Patientinnen oder Patienten per Anwalt Widerspruch eingelegt haben oder sogar vor Gericht gezogen sind. „Die Zeit haben wir nicht“, meint dazu Ricky Knabe. „Wenn wir jetzt noch ein, zwei Jahre warten, bis die Krankenkasse sich vielleicht entscheidet, dann sitzt sie vielleicht schon im Rollstuhl.“ Er nennt es „eine Schande“, dass das im deutschen Gesundheitssystem so laufe.
Um ihren Unterstützern das für die 50 000 Euro Behandlungskosten geliehene Geld zurückzuzahlen, haben die Knabes eine Spendenseite im Internet eingerichtet und über verschiedene Kanäle um Hilfe gebeten. Mehr als 120 Menschen haben inzwischen schon gespendet, von Kleinbeträgen wie zehn Euro bis zu großen Summen von 1000 oder 2000 Euro. Es sei nicht leicht gewesen, das alles so öffentlich zu machen, sagt Susanne Knabe. „Mich hat das sehr viel Überwindung gekostet.“
„Tut gut, wenn einen nicht jeder in Watte packt“
Die Unterstützung und den Zuspruch, die sie erlebe, der tue gut. „Da merkt man, dass man nicht alleine da steht.“ Andererseits ist sie auch froh um jeden Augenblick, in dem sich in ihrem Leben nicht alles um die Krankheit dreht. „Was ich gut finde: Mein Sohn behandelt mich so normal, dass ich mir vorkomme wie eine ganz normale Mutter. Das tut gut, wenn einen nicht jeder in Watte packt.“
Jetzt wartet Susanne Knabe auf den Termin für die eigentliche Transplantation der entnommenen Stammzellen. Sie hofft, in einem Jahr „wieder ganz normal durch die Gegend zu laufen“, wenn auch vielleicht noch körperlich eingeschränkt. „Aber ich werde daran arbeiten.“
Author: Craig Snyder
Last Updated: 1703609521
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